Sinus-Jugendstudie: Jugendliche sind »aware, aber nicht woke« (2024)

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Sinus-Jugendstudie: Jugendliche sind »aware, aber nicht woke« (1)

Viele der befragten Jugendlichen sind bodenständig, sie träumen von einer glücklichen Partnerschaft, Kindern, Haustieren, Eigentum, einem guten Job und genug Geld für ein sorgenfreies Leben. Im Soziologendeutsch: Die bürgerliche Biografie ist immer noch Leitmotiv für Teenager. Das geht aus ausführlichen Interviews mit 72 Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren hervor, die das Sinus-Institut im Rahmen der Studie »Wie ticken Jugendliche?« alle vier Jahre durchführt. Hier gibt es keine Torten- und Balkendiagramme, keine repräsentativen Aussagen in Prozenten, aber dafür einen tieferen Einblick, was Jugendliche in Deutschland denken und fühlen.

»Die Jugendlichen ticken sehr unterschiedlich«, stellt Forschungsleiter Marc Calmbach klar. Sie wachsen in verschiedenen Lebenswelten auf, haben unterschiedliche finanzielle Ressourcen und Bildungschancen – und das prägt auch ihren Blick auf die Welt.

Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Halt und Geborgenheit

Das Sinus-Institut hat acht Prototypen definiert: vom prekären Milieu, das schwierige Startvoraussetzungen hat, bis hin zum expeditiven Milieu, das erfolgs- und lifestyleorientiert ist.

Die Zukunftsvisionen der Befragten unterscheiden sich laut Calmbach entsprechend. Während die prekären Jugendlichen vor allem ein Dach über dem Kopf und einen gefüllten Kühlschrank als Ziel vor Augen hätten, gehe es den expeditiven Jugendlichen um Selbstverwirklichung. Sie blickten optimistisch-entspannt in die Zukunft.

Trotzdem haben die meisten dieser Jugendlichen der Studie zufolge etwas gemein: An der Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Halt und Geborgenheit und der hohen Wertschätzung von Familie habe sich im Vergleich zur Vorgängerbefragung von 2020 nichts geändert. Dieses als »Regrounding« bekannte Phänomen sei nach wie vor ein starker Trend. Die Forschenden führen ihn vor allem auf die vielen Krisen zurück, unter denen die Jugendlichen aufwachsen.

Informationen zur Sinus-Studie

Die Sinus-Studie gibt es seit 2008. Es ist keine Meinungsumfrage mit Hunderten Teilnehmerinnen und Teilnehmern, sondern eine qualitative Untersuchung. Dabei wurden von Anfang Juni bis Ende September 2023 72 Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren aus unterschiedlichen Schulformen und Bevölkerungsgruppen über mehrere Stunden intensiv zu Hause nach ihrem Alltag, ihren Wünschen, Werten und Zukunftsentwürfen befragt. Auch von den Forschenden gestellte schriftliche Hausarbeiten und fotografische Dokumentationen der Wohnwelt flossen in die Auswertung ein. »Das ist der Charme, die Qualität dieser Studie«, sagte Studienleiter Marc Calmbach. Aussagekraft für die 3,1 Millionen jungen Leute in der Altersgruppe hätten die Ergebnisse trotz der kleinen Stichprobe wegen der Tiefe der Befragung.

»Wie ticken Jugendliche?« wurde vom Sinus-Institut durchgeführt. Beauftragt wurde die Studie von der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, dem Bund der Deutschen Katholischen Jugend, der Bundeszentrale für politische Bildung, der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und der DFL Stiftung.

Schon vor vier Jahren wurde die Generation als weitgehend spaßbefreit beschrieben. Mit Ausnahme des »postmateriellen Milieus« feiern die befragten Jugendlichen laut Calmbach nur »mit angezogener Handbremse«. Hedonistische Werte hätten in den vergangenen Jahren bei den befragten Teenagern deutlich abgenommen und stünden in einem Kontrast zu den sogenannten Erlebnisjahrzehnten der Achtziger- und Neunzigerjahre.

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Trotz des vorherrschen Wunschs nach einem bürgerlichen Leben stellen die Befragten bestehende Rollenbilder infrage. Die Akzeptanz von Diversität nehme zu, so ein Studienergebnis. Jugendliche seien mittlerweile stark für Gendergerechtigkeit sensibilisiert. Die meisten Befragten zeigen sich demnach demonstrativ offen dafür, wenn Menschen ihr Geschlecht non-binär definierten.

Der Forschungsgruppe zufolge sind die befragten 14- bis 17-Jährigen dabei aber nicht dogmatisch, sondern lediglich sensibel gegenüber Diskriminierung. Die Forschenden bezeichnen sie deshalb als »aware«, aber nicht »woke«. Sie könnten es nicht nachvollziehen, wenn jemand wegen seines Geschlechts oder seiner Hautfarbe benachteiligt werde. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass viele der befragten Jugendlichen selbst von Diskriminierungserfahrung berichten, vor allem in der Schule.

Zementierte Ungleichheit

Die Schule kommt in den ausführlichen Interviews nicht gut weg. Die Ausstattung sei schlecht, zementiere die Ungleichheit, so die Position der Befragten. Das mehrgliedrige System werde als ungerecht empfunden, sagen die Forscher. Schule werde nur selten als Lernort für Demokratie und Partizipation wahrgenommen. Dabei würde sich Mitbestimmung auszahlen. Dort, wo sie gelebt werde, scheint es dem Bericht zufolge die Zufriedenheit der Jugendlichen deutlich zu erhöhen.

Den jugendtypischen Optimismus behalten die befragten Jugendlichen aber weitgehend bei. Sie pflegen eine zweckoptimistische Grundhaltung. »Die Krisen stapeln sich, und die Jugendlichen bewahren sich den Bewältigungsoptimismus, das ist erstaunlich«, sagt Forschungsleiter Calmbach. Gleichzeitig beschreiben die Sinus-Forscher die Teenager als »ernster und besorgter denn je«.

Trotz der allgegenwärtigen Krisen interessierten sich die meisten Befragten nicht für Politik. Ihr Blick ist zudem negativ: Sie trauen der Politik weder zu, Probleme zu lösen, noch fühlen sie sich gehört und ernst genommen.

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Die Befragung der 72 Jugendlichen, von denen jeweils ein Drittel Hauptschüler, Realschüler und Gymnasiasten sind, fand bereits im Sommer 2023 statt. Schlüsse zu den aktuellen Ergebnissen der Europawahl ließen sich deshalb nicht ziehen. Bei der Wahl durften erstmals die 16- und 17-Jährigen abstimmen. Die AfD hat in der Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen deutliche Zuwächse bekommen, die Grünen wurden abgestraft, die Partei Volt ist überraschend hoch eingestiegen.

In Widerspruch zu den Wahlergebnissen stehen die Erkenntnisse der Studie laut Calmbach aber nicht. Kleinere Parteien sowie die Oppositionsparteien seien bei jungen Wählern generell wichtig. Die Wahlentscheidung sei bei Jüngeren zudem stark themengetrieben. Man könne bei den meisten jungen AfD-Wählern nicht von einem geschlossen rechtsextremen Weltbild ausgehen.

Mit Material von dpa

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Author: Greg Kuvalis

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